Das Krankenhaus, das zum Glück nie zum Einsatz kam

Das Tor, hinter dem es hinab geht in ein gewaltiges Millionengrab, ist gewissenhaft verriegelt. Ein massives Vorhängeschloss sichert die dunkelblaue Stahltür irgendwo im Erdgeschoss des lichtdurchfluteten Bettenhauses. Dahinter führt eine kurze, grau gestrichene Betontreppe in das unterirdische Labyrinth. Grelles Neonlicht flackert auf. Grünlich schimmernde Streifen an den nackten, weiß getünchten Wänden weisen die Richtung zu Operationssälen und Röntgenräumen, zu Großküche, Bettensälen und Labors, zu Maschinenräumen und Energiezentralen. Vorbei an Dieseltanks und Notstromaggregaten, unter Lüftungsschächten hindurch und über gelbliche Pfützen hinweg führt der Weg tief hinein in die Zeit des Kalten Krieges.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre hat die Angst vor einem Atomkrieg nachgelassen. Die Hilfskrankenhäuser wurden eines nach dem anderen aufgegeben. Auch das in Bad Bentheim ist längst nicht mehr einsatzfähig. Doch erst jetzt, mit Beginn des Jahres 2011, ist der einst geheimnisvolle Keller, den kaum jemand zu Gesicht bekam, von der Bundesrepublik in den Besitz der Fachklinik übergegangen. Und die weiß nicht so recht, was sie mit den rund 45 Räumen in der Tiefe anfangen soll.

Eine von 94 Notkliniken in Westdeutschland

Es war die Zeit der Kubakrise, die geteilte Welt stand am Rande eines Atomkriegs. Da beschloss die Bundesregierung den Bau von Hilfskrankenhäusern, die am „Tag X" Verletzte in großer Zahl aufnehmen und versorgen sollten. Insgesamt 94 solcher Notkliniken entstanden in den folgenden Jahren in Westdeutschland, eine davon 1967 in Bentheim. Umgerechnet rund 150 Millionen Euro ließ sich der Staat diese Bauwerke für den Zivilschutz insgesamt kosten. Mit weiteren rund 1,2 Millionen Euro schlug Jahr für Jahr deren Unterhalt zu Buche.

Weil sich vorhandene Gebäude nur mit großem Aufwand zu Hilfskrankenhäusern erweitern ließen, setzte die Regierung auf ohnehin geplante Neubauten – wie zum Beispiel das Bettenhaus II des nach dem Weltkrieg wieder aufstrebenden Kurbades. Den Gesellschaftern der wenige Jahre zuvor gegründeten Fachklinik GmbH – Fürstliches Haus, Landkreis und Stadt – kam eine finanzielle Unterstützung durch den Bund gerade recht. Der baute den strahlengeschützten und trümmersicheren Keller für Funktions- und Behandlungsräume nämlich auf eigene Kosten und ersparte den Bauherren damit die teuren Fundamente im morastigen Boden.

Darüber hinaus bezuschusste die Regierung großzügig die überirdischen Krankenzimmer. Platz für 800 Betten sollte der Komplex aus Bunker, Bettenhaus I und II sowie Kurmittelhaus I bieten. Für ein Hilfskrankenhaus dieser Größe war im Sofortprogramm der Bundesregierung damals ein Zuschuss in Höhe von mindestens 700.000 D-Mark vorgesehen.

Strahlenschutz mit Bleibeton

Hier also, durch diese Schleuse, wären die Schwerverletzten in den Bunker gebracht worden. Man hätte sie ausgezogen und die verstrahlte Kleidung in einen „Abwurfschacht" entsorgt. Einige der Bleibetonsteine, mit denen der Schacht sofort wieder strahlensicher verschlossen werden sollte, liegen hier noch mit rostigen Griffen herum.

„Entgiftung" steht an der nächsten Tür. Acht Duschköpfe ragen aus der Wand. Nach dem Abschrubben wäre es von hier weiter gegangen in die Operationssäle, zum Röntgen, in die Untersuchungs- und Behandlungszimmer.

Durch welche der vielen gelben Türen man auch blickt, wohin der Schein der Taschenlampe auch fällt, wenn wieder einmal eine der Deckenlampen den Geist aufgegeben hat: Fast alle Räume sind leer geräumt. In einem ehemaligen Büro modern noch wenige vergessene Akten in der feuchten Luft, anderswo hat die Fachklinik irgendwann ein paar ausgediente Betten und Schränke zwischengelagert. Wer genauer hinschaut, entdeckt in einem Regal das Neue Testament, verstaubt und ungelesen. In einer Pfütze am Boden taucht ein Blatt Papier auf, darauf gedruckt ein Zitat des französischen Schriftstellers Charles Péguy: „Nur durch die Hoffnung bleibt alles bereit, immer wieder neu zu beginnen."

Hoffnung: Das wäre wohl das Einzige gewesen, woran es hier unten im Ernstfall gemangelt hätte. Ansonsten hatten die Bürokraten an alles gedacht. „450 Baumwollhemden, 135 Nachthemden, 288 Baumwolljäckchen, 900 Mullwindeln, 30 Säuglingsflaschen, 135 Spielhöschen, 135 Schlüpfer...": Die Inventarlisten hängen noch, säuberlich auf längst vergilbtes Papier getippt, neben den Türen.

Vorräte für drei Wochen im Atomkrieg

„10 Badetücher 150 x 200 cm": Eine einzige, korrekt beschriftete Holzkiste ist übrig geblieben. Früher stapelten sie sich zu Hunderten bis unter die Decke. Drei Wochen lang sollten Menschen in solchen Bunkern autark leben können – so stellte man sich das vor in einer Zeit, in der mancher einen Atomkrieg für beherrschbar hielt. Für die Schwerstverletzten standen hier unten auch Etagenbetten bereit, alle anderen Patienten hätten oben Platz finden sollen in den Bettenhäusern des Kurbades, die im Fall der Fälle in Windeseile zu einem Hilfskrankenhaus hätten umgerüstet werden können.

Hätte, wäre, sollte: Zum Glück kam es nie zu solch einem Ernstfall, der Bunker und seine gesamte Ausstattung wurden kein einziges Mal gebraucht. „Ich musste bloß einmal im Monat die gesamte Anlage laufen lassen und jedes Aggregat auf seine Funktion überprüfen", erinnert sich Heinrich Möller. Der 82-Jährige war bis 1994 technischer Leiter der Fachklinik und damit auch für die Wartung des Hilfskrankenhauses zuständig. Als der Bunker 1967 gebaut wurde, hatte der Bentheimer gerade als junger Mann bei der Fachklinik begonnen. „Als ich 1994 in Ruhestand ging, da hieß es: Das wird bald aufgelöst." Tatsächlich rückten in den folgenden Jahren zweimal Trupps vom damaligen Bundesamt für Zivilschutz in Bonn an und räumten den Bunker leer. Das meiste landete in Müllcontainern. Was noch brauchbar erschien, ging an humanitäre Hilfsprojekte.

„Was hier über Jahrzehnte an Werten vernichtet wurde – unglaublich", sagt Thorsten Krämer, der Nachfolger von Heinrich Möller als technischer Leiter. Beim Gang durch die kahlen Gänge bestaunt er die Armaturen und Installationen an den Wänden. „Alles vom Feinsten", erklärt er mit fachmännischem Blick. „Das könnte man heute gar nicht mehr bezahlen."

Was wird aus dem Bunker?

Krämers Aufgabe ist es nun, alle verbliebenen Anlagen, die gewaltigen Luftfilter, die Dieseltanks, die Gulaschkanonen und die Wasserversorgung mit der 60.000-Liter-Zisterne außer Betrieb zu nehmen. Bislang kam regelmäßig der TÜV, um alles fein säuberlich zu kontrollieren. Diese Kosten will sich die Fachklinik als nicht ganz freiwillige neue Eigentümerin natürlich sparen.

Was aus dem Bunker werden soll? Geschäftsführer Klaus Kinast zuckt ratlos die Schultern. Wegen der 60 Zentimeter dicken Betonwände kann man die verwinkelten Kammern, Gänge und Säle nicht einfach umbauen. Das Hauptproblem aber ist, dass der Keller direkt neben die Schwefelquelle gebaut wurde. „Das riecht man da unten. Da lässt sich noch nicht einmal ein Archiv unterbringen." Klaus Kinast ist schon froh, wenn die Klinik die Räume tief im sumpfigen Boden einigermaßen trocken halten kann und das Relikt des Kalten Krieges sie nicht allzu teuer zu stehen kommt.

Zurück aus der Unterwelt, lässt Thorsten Krämer die schwere Tür leise hinter sich zufallen. Dann zieht er das Vorhängeschloss aus der Tasche und schließt gewissenhaft ab. „Ich hatte immer Angst, dass ich da unten mal eingeschlossen werde", erinnert sich Rentner Heinrich Möller an seine unzähligen Kontrollgänge. Sein Nachfolger Krämer nickt: „Ich nehme das Schloss auch immer mit rein, wenn ich dort runter gehe." Nicht, dass in diesem Millionengrab, das doch Menschen das Leben retten sollte, am Ende noch jemand lebendig begraben wird.

© Von Steffen Burkert (Text), 12.02.2011

Ausflug in die Unterwelt

Die Angst, eingeschlossen zu sein, ist immer dabei.

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Unter der Fachklinik Bad Bentheim erstreckt sich das riesige Labyrinth einer Notklinik. Hier wird man in die Zeit versetzt, als ein Atomkrieg in Europa ein greifbares Szenario war.